Landessuperintendent Rathing zur landeskirchlichen Initiative „Zeit für Freiräume“
Die evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers startet mit dem Motto „Zeit für Freiräume“ in das Jahr 2019. Es soll ein „Jahr der Besinnung, des Zögerns und der Experimente sein“. Das besagt ein Brief der sechs Regionalbischöfe an die rund 10.000 KirchenvorsteherInnen in den insgesamt 1248 Gemeinden der Landeskirche. Einer der Initiatoren ist Dieter Rathing. Der Landessuperintendent erklärt, was es mit der Initiative des Bischofsrates auf sich hat.
Freiräume, das klingt nach einem Wunschtraum von Gefangenen…
Rathing: Ja, als „Gefangene“ in eingespielten Abläufen und Routinen erleben wir uns oft. Das höre ich nicht nur in der Kirche. Vieles in der Arbeit und im Privaten scheint so unabänderlich festgezurrt. Wir kommen immer zu wenig zu dem, wofür wir eigentlich mal angetreten sind.
Und Zeit? Das ist – gefühlt – ein knappes Gut geworden. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Rathing: Immer schneller, immer mehr, das scheint ein Gesetz unserer Zeit zu sein. Viele Menschen erleben wachsende Anforderungen im Beruf, aber auch im Privatleben. Wirtschaftlicher Druck und eine allgegenwärtige Beschleunigung sind für den Einzelnen und für die Gemeinschaft eine Gefahr. Was treibt uns eigentlich an, wenn wir uns immer mehr als Getriebene erleben?
Im neuen Jahr soll es also „Zeit für Freiräume“ geben. In der Bibel steht aber nichts davon, oder?
Rathing: Jesus betont einmal in einem Streitgespräch, dass unser Tun und Lassen „um des Menschen willen“ geschehen soll. Daran knüpfen wir an und fragen: Wo können wir im Getriebe unserer Zeit aufmerksamer sein um des Menschen willen, der wir selber sind. Wo können wir Freiräume finden um der Menschen willen, die uns wichtig sind?
Wie stellen Sie sich Freiräume im kirchlichen Alltag konkret vor?
Rathing: Ich wünsche mir die ehrliche Frage nach dem, was wir lassen oder auch anders machen können. Vielleicht mit der 1:2-Regel: Wenn wir etwas Neues machen, lassen wir zwei alte Aktivitäten weg. Ob die ganze Anzahl der Gremiensitzungen wirklich „um des Menschen willen“ sind, wage ich zu bezweifeln. Ich höre jedenfalls viel Stöhnen darüber bei Ehren- und Hauptamtlichen.
Aus den Gemeinden sind auch kritische Stimmen zu hören, die sagen: Wir haben keine Zeit für Freiräume. Soll denn der Gottesdienst am Sonntag ausfallen, die Konfirmanden zu Hause bleiben?
Rathing: Keine Zeit für Freiräume? Das wäre für mich die Kapitulation vor einem Zeitgeist, der uns nur noch als Termin-Menschen sehen will. Gerade den Gottesdienst erleben viele Menschen für sich als einen Freiraum der Besinnung und des Nachdenkens. Von den Hauptamtlichen höre ich aber auch von immer mehr Sonder-Gottesdiensten zu den verschiedensten Anlässen. Vielleicht ist das ein Fall für die 1:2-Regel. Was die Konfirmanden angeht: Wenn sie den Unterricht als einen Freiraum inmitten von Leistungsdruck und Freizeitstress erleben, kann ich mich nur darüber freuen.
Und was ist mit Erzieherinnen in kirchlichen Kitas, Pflegekräften in der Diakonie oder Verwaltungsmitarbeitenden?
Rathing: Dort werde ich im nächsten Jahr besonders das Gespräch suchen. Auf der einen Seite höre ich: „Freiräume“ sind für uns eine Utopie. Andererseits kommt gerade aus diesen Berufsfeldern ein Ächzen über Arbeitsverdichtung und Überbeanspruchung. Da fährt dann der erst einmal etwas besinnlich daherkommende Gedanke von „Freiräumen“ schnell in ein gesellschaftspolitisches Fahrwasser. Um des Menschen willen ist das auch richtig. Eine schöne Idee ist mir bei der Diakonie Südheide begegnet: Dort ermöglicht das Spendenprojekt „ZuGabe“ mehr Zeit für die individuelle Betreuung in der ambulanten Pflege.
Sie wollen mit Ihrer Initiative auch einen Impuls in die Gesellschaft geben. An welche Gruppen denken Sie da besonders?
Rathing: Drei Gruppen sind eben genannt. Darüber hinaus denke ich an alle, die sich in einem Druck sehen, immer neue Vorhaben auszurufen oder erfüllen zu müssen. Mit dem Wort „Freiraum“ verbindet jeder und jede eigene Ideen, Hoffnungen und Sehnsüchte. Immer geht es darum, wo und wie in einer stets schneller und komplexer werdenden Welt ein gutes Leben und Arbeiten gelingen kann.
Gilt das Motto eigentlich auch für die Kirchenleitung? Wie werden Sie Ihre persönliche „Zeit für Freiräume“ gestalten?
Rathing: Zum einen werde ich mich ehrlich befragen, wo sich in meiner Arbeit Routinen eingeschlichen haben, die mich denken lassen, es ginge nur so und nicht anders. Wo kann ich um meinetwillen etwas lassen oder verändern? Und wo kann ich es um anderer Menschen willen? Und dann werde ich, wo immer es geht, mit Menschen in und außerhalb der Kirche ins Gespräch gehen. Ich bin überzeugt, die „Zeit für Freiräume“ trifft einen Nerv unserer Zeit.
Landessuperintendent Dieter Rathing ist Regionalbischof für den Sprengel Lüneburg. Dazu gehören zehn Kirchenkreise im nordöstlichen Niedersachsen – zwischen Wolfsburg und Hittfeld, Soltau und Lüchow-Dannenberg.
Die sechs Landessuperintendenten der hannoverschen Landeskirche werden die Initiative „Zeit für Freiräume – um des Menschen willen“ zeitgleich in Gottesdiensten am 6. Januar eröffnen. Dieter Rathing predigt um 10 Uhr in der Lüneburger St. Johanniskirche. Am 8. Januar spricht Landesbischof Ralf Meister über das Thema: um 17 Uhr beim Neujahrsempfang des Kirchenkreises Lüneburg, ebenfalls in St. Johannis.
Hartmut Merten