Regionalbischof zieht nach Besuchsreihe zu Genossenschaften Bilanz
Der Lüneburger Landessuperintendent Dieter Rathing hat Genossenschaften als wichtige Rechtsform im Kapitalismus bezeichnet. „Während die Finanzwirtschaft heute oft nur sich selbst dient, stehen Genossenschaften in der Tradition Friedrich Wilhelm Raiffeisens im Dienst am Menschen“, sagte der Regionalbischof zum Abschluss einer Reise zu zehn genossenschaftlich organisierten Unternehmen im nordöstlichen Niedersachsen. Anlass war der Geburtstag des christlichen Sozialreformers vor 200 Jahren.
"Einer für alle, alle für einen, das ist bis heute Motto der Genossenschaften“, erklärt Pastor Peer-Detlev Schladebusch vom Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt, der Rathing auf seiner Reise durch den Sprengel Lüneburg begleitete. Um die Not der Landbevölkerung zu lindern, habe Raiffeisen im Hungerwinter 1846/1847 in Weyerbusch im Westerwald den „Verein für Selbstbeschaffung von Brod und Früchten“ gegründet. „Die Idee der Selbsthilfe, der Selbstverantwortung und der Selbstverwaltung in Genossenschaften war geboren“, so Schladebusch. Sie wurde von der UNESCO 2016 als immaterielles Kulturerbe anerkannt.
Bis heute fühlen sich traditionelle Genossenschaften vor allem der Landwirtschaft und dem ländlichen Raum verpflichtet. Das konnten Rathing und Schladebusch unter anderem bei der Raiffeisen Centralheide eG (RCH) in Walsrode erfahren. Das Unternehmen mit mehr als 900 Mitgliedern engagiert sich in den Bereichen Agrar, Energie, Tankstellen und Märkte. Die RCH versteht sich als Dienstleister für den ländlichen Raum und bietet Landwirten „alles, was sie brauchen“.
Ähnlich lautet das Motto der „VR PLUS Altmark-Wendland eG“ in Lüchow: „Wir kümmern uns.“ Die 1917 gegründete VR PLUS sieht ihre Aufgabe darüber hinaus in der Entwicklung einer der strukturschwächsten Gegenden Deutschlands: „Wir wären gern Partner bei Projekten zur Re-Vitalisierung der Region“, erfuhren die Besucher von der Vorstandsvorsitzenden Grit Worsch.
Während in wirtschaftlichen Zusammenhängen oft der Verlust von persönlichen Beziehungen beklagt werde, böten Genossenschaften Räume zu Begegnung und Beteiligung, hat Rathing erfahren: „Demokratische Prinzipien werden mit wirtschaftlichem Handeln verbunden.“ Typisch sei zudem die Orientierung an den Bedürfnissen der Mitglieder. Demgemäß werden maßgebliche Entscheidungen von der Generalversammlung getroffen. „Menschen vor Ort sind Experten ihrer Situation und tragen im Idealfall selbst tatkräftig zu einer Lösung bei“, so Rathing. Genossenschaften leisteten innovative Beiträge zu lokal-gesellschaftlichen Herausforderungen.
Aktuelle Beispiele fanden die Reisenden auf den Spuren von Friedrich Wilhelm Raiffeisen unter anderem in dem 640-Seelen-Dorf Kirchboitzen. Hier haben 100 Genossinnen und Genossen vor drei Jahren dem von der Schließung bedrohten, Jahrhunderte alten Gasthaus „Zum Domkreuger“ neues Leben eingehaucht. Eine im vorigen Jahr gegründete und bereits aus 350 Mitgliedern bestehende Gemüse-Genossenschaft konnten die Besucher in Lüneburg kennenlernen: „WirGarten“ steht für eine vielfältige, gesunde und transparente Gemüseversorgung in Bürgerhand.
In Hitzacker ist derzeit zu erleben, wie rund 170 engagierte Bürger ihre Vision in die Tat umsetzen: Gutes Leben auf dem Land, interkulturelle und solidarische Nachbarschaft, ökologisches sowie nachhaltiges Bauen und Leben. 100 Wohnungen und Gewerberäume für 300 Menschen sollen hier entstehen, das erste Wohnhaus ist fast fertig. Und während die Hitzacker Dorf Genossenschaft die Gebäude errichtet, widmet sich der Verein Dorfleben der Entwicklung einer guten Gemeinschaft aller Beteiligten. „Wir denken das Dorf neu“, heißt es bei den dort Engagierten.
Für Landessuperintendent Rathing kann die Genossenschaftsidee zur Gestaltung einer gemeinsamen Lebenswelt beitragen und auch ein Vorbild für die Kirche sein. „Genossenschaften zeigen: Die Kompetenz für Lösungen liegt vor Ort.“ Wirtschaftliches Handeln aus christlicher Verantwortung sei möglich und könne ethisch sehr wohl reflektiert sein, ist der Regionalbischof überzeugt. Und nicht zuletzt: „Geben und Nehmen kommen als eine wichtige Grammatik des Lebens in der Genossenschaft zusammen.“
Hartmut Merten