IT-Experte über Herausforderungen der Digitalisierung in der Wirtschaft
Der „Boléro“ von Maurice Ravel beginnt leise und unmerklich, steigert sich zunehmend ins Wahrnehmbare und gipfelt in einem unüberhörbaren Finale. „Ein solcher Boléro bewegt sich gerade auf die Arbeitswelt zu“, sagt Welf Schröter mit Blick auf sogenannte Autonome Softwaresysteme. Der Leiter des Forums Soziale Technikgestaltung beim DGB Baden-Württemberg sprach jetzt im Rahmen der Wolfsburger Gespräche, sein Thema: „Von der nachholenden Digitalisierung zur vorausschauenden Arbeitsgestaltung“.
Bis zu fünf Mal jährlich laden die IG Metall, die Ingenieurkammer Niedersachsen und der evangelisch-lutherische Kirchenkreis Wolfsburg-Wittingen zu diesen Gesprächsrunden ein. „Wir kommen aus den unterschiedlichsten Bereichen zusammen, um uns über aktuelle gesellschaftliche Fragen auszutauschen und miteinander zu verbinden“, erklärte Industrieseelsorger Dirk Wagner vor rund 20 Teilnehmenden.
Die Digitalisierung ist seit mehr als 20 Jahren das bestimmende Thema, nicht nur in der Wirtschaftswelt. Die mit dem Stichwort „Arbeit 4.0“ beschriebene Entwicklung Autonomer Softwaresystem bedeute indes eine völlig neue Dimension, so Schröter: „Dabei wird an die Stelle der traditionellen Handlungsträgerschaft Mensch immer mehr eine Handlungsträgerschaft ‚Autonomes Softwaresystem‘ treten.“ Dieses lerne, denke, bewerte, verarbeite, kommuniziere und entscheide rechtsverbindlich „gleichsam hinter dem Rücken des Menschen“, beschrieb Schröter den qualitativen Wandel der Technik.
Während die „Rückholbarkeit“ bislang als Kriterium verantwortlicher Technik galt, sorgten sich nicht nur Betriebsräte um fehlende Korrekturmöglichkeiten. „Autonome Softwaresysteme sind nach ihrem Start nicht mehr gestaltbar“, so Schröter. Algorithmen seien hilfreich, wo es um Zahlen gehe. Inzwischen gebe es Algorithmen, die selbst Algorithmen erzeugen können. „Doch wer steht da für Werte und Normen ein“, fragte Schröter. Ein Teil der IT-Szene lasse normative Fragen „völlig außen vor“, kritisierte der IT-Experte die Branche.
Die meisten Sozialwissenschaftler hielten sich bei dem Thema bislang vornehm zurück, möglicherweise aus Angst vor Ärger, vermutet Schröter. „Und die Bildungsleute wachen erst ganz, ganz langsam auf.“ Es gelte dafür zu sorgen, dass der Mensch nicht zum Objekt der Technik wird. Im Sinne der herkömmlichen Technikfolgenabschätzung gehe es nicht zuletzt um die Korrigierbarkeit von Fehlern. Gefragt sei ein interdisziplinärer Diskurs über die Möglichkeiten und Grenzen moderner Technologien. „Es gibt keinen Algorithmus für Respekt“, unterstrich Schröter.
Der IT-Fachmann schloss nicht aus, dass Autonome Softwaresysteme für die Gewerkschaftsarbeit nützlich sein könnten. „Wenn ein ASS-Tool unscharfe Fragen, unscharfe Satzteile, erfahrungsgeleitete Begriffe eingegeben bekommt, könnte das Tool als Antworten sowohl Zusammenhänge zwischen verschiedenen Themen wie auch Verweise auf Sach- und Fachwissen bereitstellen“, sieht der Autor des Blogs Zukunft der Arbeit (www.blog-zukunft-der-arbeit.de) durchaus Chancen.
Um einer vorausschauenden Arbeitsgestaltung willen, müssten indes Anforderungen formuliert werden. „Der Satz - Autonome Softwaresysteme sollen rechtsstaatlich handeln - würde schon mal etwas bewirken“, zeigte sich Schröter überzeugt. „Wir müssen die Vier-Null-Welt aus der Perspektive der Zukunft heraus gestalten.“
Hartmut Merten