„Erhebendes Klanggefühl“ oder „kulturelle Bereicherung“
Uelzen/Hildesheim. Was für Menschen engagieren sich in kirchlichen Posaunenchören, was motiviert sie zu diesem Einsatz und was erleben sie dabei? Antworten soll eine Bläserbefragung geben, die von der Uelzener Pastorin Julia Koll angeregt wurde. Dazu werden ab Ende April rund 18000 Bläserinnen und Bläser in Norddeutschland angeschrieben. Die Befragung wird als gemeinsames Projekt der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen mit den Posaunenwerken der Landeskirchen Hannover, Nordelbien, Mecklenburg und Pommern durchgeführt. Weitere Kooperationspartner sind u.a. die Hanns-Lilje-Stiftung, die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und der Förderverein Posaunenwerk Hannover.
Seit ihrer Jugend bläst Julia Koll Trompete in Posaunenchören. Jetzt will die 36 Jahre alte promovierte Theologin, die in Marburg an der Lahn sowie in Berkeley/Kalifornien studierte, das Thema wissenschaftlich aufarbeiten. „Geht es in Posaunenchören vorrangig um die Musik, eine Form der Religionsausübung oder um Geselligkeit“, möchte Julia Koll wissen, „und wie verhalten sich die drei Faktoren zueinander“. Neben Daten zur aktuellen Situation und sozialen Zusammensetzung der Chöre geht es der Forscherin auch um den Einfluss des gemeinsamen Musizierens auf die religiöse Identität der Bläserinnen und Bläser.
„Wie wichtig sind Ihnen die Aktivitäten des Posaunenchores“, lautet etwa eine der insgesamt 24 Fragen für Chormitglieder. Antwortmöglichkeiten wie zum Beispiel „wöchentliche Proben“, „Auftritte“, „Reisen“ oder „Kirchentage“ können auf einer Skala von „gar nicht wichtig“ bis „sehr wichtig“ bewertet werden. Die Frage nach der Motivation kann beispielsweise mit dem gemeinschaftlichen Tun, einem „erhebenden Klanggefühl“ oder der „kulturellen Bereicherung des dörflichen Lebens“ beantwortet werden. „Da ist eine ganz große Neugier“, sagt Julia Koll, die sich aufgrund der flächendeckenden Befragung auch Aussagen zum Stadt/Land- beziehungsweise Ost/West-Vergleich erhofft.
Die Ergebnisse könnten unter anderem für die landeskirchlichen Posaunenwerke interessant sein, deren Aufgabe die Förderung der Bläserarbeit ist. Eine Erwartung, die Wolfgang Gerts bestätigt: „Die Befragung hilft uns, aus dem Bereich der Vermutungen herauszukommen, unsere Bläserschaft besser kennenzulernen und unsere Angebote den Bedürfnissen anzupassen“, freut sich der hannoversche Landesobmann über die Initiative.
Julia Koll, die in der Beschäftigung mit einer Befragung von Bläsern des hannoverschen Posaunenwerkes aus dem Jahr 2004 auf das Thema gekommen ist, will mit ihrer Studie eine Forschungslücke schließen. „In der soziologischen und theologischen Kirchenbindungsforschung der vergangenen Jahrzehnte hat die Kirchenmusik kaum Berücksichtigung erfahren“, so hat die Theologin festgestellt. Dabei erscheinen ihr die Posaunenchöre besonders interessant: „Wie kaum eine andere kirchliche Gruppe sind sie alters- und geschlechterdurchmischt und gelten als milieuoffen.“ Dass Posaunenchorbläsern aus Sicht von Vertretern der klassischen Kirchenmusik mitunter das Image von „Schmuddelkindern“ anhaftet, erklärt Julia Koll historisch: Blechblasinstrumente wurden zunächst ausschließlich mit Militärmusik oder dörflichen Blaskapellen in Verbindung gebracht.
Während die kirchliche Bläserarbeit in ihren Anfängen um 1850 „erwecklich“ geprägt gewesen sei, habe sie sich in den letzten 60 Jahren zu einem evangelischen Breitenphänomen entwickelt, erläutert die Wissenschaftlerin. Die Mitglieder evangelischer Posaunenchöre zeichneten sich durch eine „ausgeprägte Gruppenidentität in Halbdistanz zur Kerngemeinde“ aus, zugleich seien sie im gottesdienstlichen Leben meist fest verankert – ein weiteres Phänomen, dem Julia Koll in ihrer Studie auf den Grund gehen will.
Zunächst jedoch wirbt die Forscherin um eine hohe Beteiligung an der Umfrage, mindestens 50 Prozent Rücklauf bis Ende Juni sind angestrebt. Danach werden die Daten erfasst und im September systematisch ausgewertet. Die Ergebnisse sollen in einer allgemein verständlichen Broschüre veröffentlicht werden. Spätestens dann will Julia Koll auch darüber Auskunft geben können, was mit einem in der Szene viel zitierten Motiv gemeint ist: „Blasen zum Lobe Gottes.“
Hartmut Merten