„Beim Mensch-ärgere-dich-nicht gestern hat er mich abgezockt“, sagt Josh mit Blick auf Dieter Rathing. In den Worten des Elfjährigen schwingt Bewunderung für seinen Gegenspieler mit. Die zwei Jahre jüngere Schwester Cleo beißt gerade in ihr Frühstücksbrötchen, während Almut Detmering bereits das Mittagessen vorbereitet. Eine Suppe „quer durch den Garten“ soll es geben.
Die Dorfhelferin war jetzt für drei Wochen auf dem Hof der Familie Heitmann in Westervesede bei Scheeßel im Einsatz. Rathing unterstützte sie vier Tage lang als Praktikant. Der Grund für die ungewöhnliche Konstellation: Ein Missgeschick der Hausfrau.
Andrea Heitmann war Anfang August ausgerutscht und hatte sich das Steißbein gebrochen. Die Schmerzen seien unerträglich gewesen, berichtet die 37-Jährige. Sie habe weder liegen noch sitzen oder stehen, geschweige denn arbeiten können. Für die Hausfrau und Mutter war das fast der GAU – ebenso wie für die Familie Heitmann, die in drei Generationen unter einem Dach lebt, Schweinemast betreibt, 80-Hektar Land bewirtschaftet und zudem einen Auszubildenden beschäftigt.
Über das Landvolk nahm Andrea Heitmann Kontakt zum Evangelischen Dorfhelferinnenwerk Niedersachsen auf. Bereits am nächsten Tag stand Almut Detmering dienstbereit vor der Tür des Bauernhauses in Westervesede. „Das ging ratzfatz“, sagt Andrea Heitmann, „die Entlastung war sofort da.“
Auch Landessuperintendent Dieter Rathing, seit einem Jahr Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Dorfhelferinnenwerks Niedersachsen, erschien täglich um 7.30 Uhr zum Dienst. Der Regionalbischof schälte Kartoffeln, putzte Fenster und pflückte Himbeeren. Zwischendurch übernahm er auch die Fahrdienste der Mutter, brachte beispielsweise Tochter Cleo mit dem Auto zum Tennis. „Heute Morgen waren wir einkaufen, anschließend habe ich den Hof gefegt“, gibt Rathing im Pressegespräch Einblick in seinen Praktikumsalltag. Eine besondere Herausforderung sei es gewesen, das Raff-Rollo in der Küche nach der Wäsche wieder instand zu setzen. „Alle Fäden waren raus“, verrät Almut Detmering das Problem. Und zeigt voller Anerkennung auf den funktionsfähigen Vorhang.
In der Zusammenarbeit mit dem Chef des Dorfhelferinnenwerks sei sie zunächst befangen gewesen, gesteht die Dorfhelferin. „Ich sortiere doch nicht mit Herrn Rathing die Socken“, habe sie sich gedacht. Doch der habe sich immer wieder angeboten, Aufgaben zu übernehmen. „Zu zweit schafft man viel mehr“, hat Detmering gemerkt.
Für Dieter Rathing war das Betriebspraktikum eine gute Gelegenheit, das Werk näher kennenzulernen. „Ich kenne die Arbeit der Dorfhelferinnen ja sonst nur in der Papierform“, bekennt der Vorstandsvorsitzende. „Hier in der Praxis geht’s um Diakonie auf frischer Tat.“ Überrascht habe ihn die Breite der Tätigkeiten. Außer der fachlichen Kompetenz brauche eine Dorfhelferin viel Einfühlungsvermögen. „Das Fachliche ist das eine, aber in einen fremden Haushalt zu kommen und sich dort einzufädeln, das ist ein anderes“, sagt Rathing. Wie sensibel Almut Detmering etwa auf die Vorlieben der Kinder eingehe, habe ihn beeindruckt. Andrea Heitmann pflichtet dem Praktikanten bei: „Das Zwischenmenschliche muss passen.“
Für Rathing war das Praktikum als „Dorfhelfer“ nach Einsätzen in den Diakonischen Heimen Kästorf und im Tourismusbereich das dritte dieser Art. „Es geht mir darum, einmal im Jahr in eine Facette des Alltagslebens einzutauchen“, erläutert er sein Anliegen. Und was war sein schönstes Erlebnis? Mit den Kindern die Kartoffeln rauszukriegen, sagt Rathing. „Das hat mir am meisten Spaß gemacht.“
„Mit uns läuft alles bestens weiter!“
Rund 130 Dorfhelferinnen sind derzeit in Niedersachsen im Einsatz. Sie werden über 37 regionale Einsatzleitungen in Familien in Notsituationen entsandt. Sitz der Zentrale ist Hannover. Mit dem Seminar in Loccum verfügt das Evangelische Dorfhelferinnenwerk Niedersachsen über eine eigene Ausbildungseinrichtung.
Die Fortbildung erfolgt heute berufsbegleitend und wird mit einer Prüfung vor der Landwirtschaftskammer abgeschlossen. Die Ausbildungsinhalte vermitteln unter anderem Kenntnisse in den Bereichen Säuglingspflege, Kindererziehung, Pflege älterer und kranker Menschen sowie Betreuung von Menschen mit Behinderung. Pädagogik und Psychologie gehören ebenso zu den Unterrichtsfächern wie Rechtskunde und Religion.
Für Almut Detmering ist ihr Beruf ein Traumjob, nicht zuletzt wegen seiner Vielfalt. „Ich könnte mir nichts anderes vorstellen“, sagt die 50-Jährige aus Hademstorf (Heidekreis), die selbst Mutter von fünf Kindern ist und aus der Landwirtschaft stammt. Doch längst werden Dorfhelferinnen nicht mehr nur in landwirtschaftlichen Haushalten eingesetzt, auch etwa Ein-Eltern-Familien im städtischen Umfeld können die Dienste der Dorfhelferinnen in Anspruch nehmen. „Mit uns Dorfhelferinnen läuft alles bestens weiter“, lautet das Motto der diakonischen Einrichtung, die 1960 gegründet wurde.
Außer dem Krankheitsfall begründen beispielsweise auch Schwangerschaft und Entbindung, die Teilnahme an einer Kur oder die Versorgung von pflegebedürftigen Angehörigen unter bestimmten Umständen die Finanzierung durch Krankenkassen bzw. andere Sozialversicherungsträger. Auch über das Jugendamt vermittelte Einsätze gehören zum Spektrum.
Dass eine Dorfhelferin manchmal heute erst erfährt, wo sie ab morgen Dienst tut, schreckt Almut Detmering nicht. „Ich freue mich immer, wenn der Anruf kommt: Es kann wieder losgehen.“ Sie versuche jede Familie so zu nehmen, wie sie ist, nennt Detmering ihre Maxime.
Hartmut Merten