Die veränderte Erhebung der Kirchensteuer auf Kapitalerträge ab dem kommenden Jahr scheint Auslöser für vermehrte Kirchenaustritte zu sein. In Hamburg sollen 60 Prozent mehr Mitglieder als im gleichen Zeitraum des Vorjahres ihren Austritt erklärt haben, in der Hannoverschen Landeskirche ist die Rede von bis zu 40 Prozent mehr. Die Landeszeitung für die Lüneburger Heide sprach mit Lüneburgs Landessuperintendenten Dieter Rathing.
Herr Rathing, zeichnen sich auch in den Kirchenkreisen Lüneburg und Bleckede vermehrt Austritte ab?
Ich kenne die örtlichen Zahlen nicht, aber ich gehe nicht davon aus, dass wir hier eine Insel der Unberührten sind.
Sind die Menschen kirchenmüde? Und ist die Veränderung der Erhebung der Kirchensteuer für manchen, der sich schon lange innerlich von der Kirche getrennt hat, eventuell letzter Auslöser für den Austritt?
Haben Sie noch den Gottesdienst zum Landesposaunenfest auf dem Lüneburger Marktplatz im letzten Monat vor Augen? 2000 feiernde Menschen! Sieht so Kirchenmüdigkeit aus? Müde sind Menschen davon, die Kirche mit Investitionen in persönliche Eitelkeiten in Verbindung bringen zu müssen. Das ist hier bei uns nicht der Fall. Das meiste Geld geht in die Arbeit der Kirchengemeinden, für Seelsorge und Mitarbeitende. An vielen Orten ist unsere Kirche jetzt in den Ferien mit Kinder- und Jugendfreizeiten unterwegs. Das sind die besten Investitionen. Auch für den, der für sich selbst gerade die Kirche nicht nötig hat, kann dazu beitragen, dass ihre Arbeit für andere erhalten bleibt. Und dann vielleicht auch mal wieder für sich selbst, wer weiß das schon.
Warum soll künftig Kirchensteuer auf Kapitalerträge erhoben werden und fließt das Geld dann der Kirche zu?
Bitte verbreiten nicht auch Sie noch das Märchen von einer neuen Kirchensteuer. Es handelt sich allein um eine Änderung im Steuerrecht. Ab 2015 wird die Kirchensteuer auf Kapitalerträge, also etwa Zinsen, automatisch von den Banken an den Staat weitergeleitet. Bisher war sie im Zuge der Steuererklärung fällig. Also, keine neue Steuer, nur ein anderer Zahlungsweg.
Welche guten Gründe gibt es, Mitglied in einer Kirchengemeinde zu sein?
Kirche ist das, was es ohne sie nicht gäbe. Glocken und Orgel, Christmette und Chormusik. Ort, an dem gebetet wird in Glück und in Trauer. Ort, an dem unsere Kinder eingeführt werden in das Achtgeben auf die Nächsten und die Fernen. Ort, an dem wir erinnert werden, dass unser Leben mehr ist als Geburtsdatum und Todestag. Ort, aus dem heraus geholfen und geheilt wird, zugehört und gefeiert. Die meisten Menschen in unserem Land möchten das nicht missen.
Die Kirche leistet mit ihren diakonischen Angeboten vieles in unserer Gesellschaft und erhält kulturelle Schätze. Müsste das nicht viel stärker und besser publik gemacht werden?
Kann jemand in Lüneburg leben, ohne die herrlich erhaltenen Kirchen wahrzunehmen? Einheimische und Touristen wissen ihre offenen Türen an allen Tagen der Woche zu schätzen. Kann jemand in Lüneburg leben, ohne schon einmal von Diakonie oder Herbergsverein gehört zu haben? Ich bin stolz darauf, dass wir in Lüneburg so viele bekannte Markenzeichen der Diakonie für Hilfe und Unterstützung haben. Im „Ma Donna“ für Frauen und Familien, im „drobs“ für alles um Sucht und Suchtprävention, im „Stövchen“ für soziale Kontakte, die „neue arbeit“ für Beschäftigung und Qualifizierung, um nur einige zu nennen. Wer wissen will, was seine Kirchensteuer leistet, der kann sich in der Stadt und im Landkreis ein gutes Bild davon machen.
Das Interview der Landeszeitung für die Lüneburger Heide mit Landessuperintendent Dieter Rathing erschien am 15. August 2014. Die Fragen stellte LZ-Redakteurin Antje Schäfer.