Das jährliche Betriebspraktikum war sein Markenzeichen: So begleitete Regionalbischof Dieter Rathing im Sommer 2018 den Schäfer Ralf Bachmann und zog mit einer Heidschnucken-Herde samt Hütehund „Prinz“ eine Woche lang durch die Lüneburger Heide. Immer auf der Suche nach neuen Weideflächen. Daneben galt es, kranke Tiere zu versorgen, Stallanlagen zu reparieren und auch schon an das Winterfutter zu denken. Was der kirchenleitende Pastor an der Tätigkeit eines „richtigen Hirten“ besonders spannend findet? „Das ist zum einen der Blick für das Ganze, die Herde mit 600 Schafen, und andererseits der Blick auf das einzelne Tier“, so Rathing. Die Parallelen liegen auf der Hand: Die Seelsorge gilt dem einzelnen Menschen, zugleich stehen kirchliche Amtsträger in gesamtkirchlicher Verantwortung.
Dieter Rathing wurde 1986 zum Pastor ordiniert. Nach acht Jahren in Stade wechselte er an die Stadtkirche St. Marien in Osnabrück und wurde 2001 Superintendent in Verden. 2011 wählte ihn der Kirchensenat der hannoverschen Landeskirche zum Landessuperintendenten für den Sprengel Lüneburg. Seit Inkrafttreten der neuen Kirchenverfassung 2020 führt Rathing den Titel Regionalbischof. Ende März geht der 64-Jährige in den Ruhestand.
Zu den bischöflichen Aufgaben gehört die Einsetzung in das Amt der Verkündigung. So hat Dieter Rathing in seiner Amtszeit rund 60 Theologinnen und Theologen in den Pfarrdienst ordiniert, 61 Männer und Frauen mit dem Prädikantendienst beauftragt sowie zehn Diakoninnen und Diakone eingesegnet. Darüber hinaus führte er zwei Superintendentinnen und zwei Superintendenten in ihre Ämter ein. Die Gespräche, auch seelsorgerliche Gespräche in Konflikt- und Krisensituationen hat Rathing nicht gezählt – sie gehören zum verborgenen Wirken des „Pastors der Pastoren“.
Regelmäßige Besuche in den zehn Kirchenkreisen des Sprengels bildeten einen weiteren Schwerpunkt. Sei es aus Anlass der alle sechs Jahre vorgesehenen Visitation, aufgrund von Predigt-Einladungen zu Fest-Gottesdiensten wie Kirchenjubiläen, durch Teilnahme an Konventen und Kreissynoden oder zur Beratung in Konfliktfällen. „Du warst auf angenehme, unaufdringliche Art präsent“, würdigt etwa Stephan Wichert-von Holten, Propst des Kirchenkreises Lüchow-Dannenberg, seinen Vorgesetzten.
Dass Dieter Rathing stets auch der Blick über den Kirchturm hinaus wichtig war, zeigen seine thematischen Sprengelbereisungen. So führte ihn eine zehntägige Reise zu 17 landwirtschaftlichen Betrieben und Einrichtungen kreuz und quer durch das nordöstliche Niedersachsen. Die Bestattungs- und Erinnerungskultur, Orte des Friedens, das Handwerk, Kunst und Kultur sowie Genossenschaften stellten weitere Reisethemen dar. Dabei ging es Dieter Rathing stets um zweierlei: „Wahrnehmen und wertschätzen“. Vor allem die Menschen, die sich in diesen Bereichen engagieren.
Manche Amtsträger mögen es beklagen: Kirchenleitung lebt im Wesentlichen von der Macht des Wortes, wozu vor allem das Zuhören gehört. „Im direkten Austausch begegnet Dieter Rathing seinem Gegenüber sehr präsent, offen und unterstützend“, beschreibt etwa Uelzens Propst Jörg Hagen eine Stärke des Geistlichen. Superintendent Christian E. Berndt (Winsen/Luhe) hat seinen Regionalbischof gerade in Krisen als hilfreich erlebt: „Dieter Rathing hat einem immer noch einmal einen neuen Blick auf die Situation ermöglicht.“
Das gilt auch für seine Predigten. „Da wurde man durch staunenswerte Re-formulierungen der biblischen Inhalte zu neuem Hinhören verleitet“, bekennt etwa Lüneburgs Superintendentin Christine Schmid. In Rathings Predigten kämen Originalität und Sprachwitz zusammen. Dem konnten sich auch die rund 300 Pastorinnen und Pastoren nicht entziehen, deren Wesensart Rathing bei einem Generalkonvent ebenso humorvoll wie tiefgründig mit Hunden und Katzen verglich. Anstelle des „Amen“ spendeten die Geistlichen dem Prediger langanhaltenden Applaus. Das gab es noch nie.
„Wenn Sie hinter meiner Leitung des Sprengels eine Liebe zum geistlichen Wort und zu einer Orientierung am praktisch wirkenden Tun wahrgenommen haben, sehe ich mich sehr verstanden“, schrieb Dieter Rathing den Pastorinnen und Pastoren zum Abschied. Die offizielle „Entpflichtung“ durch Landesbischof Ralf Meister erfolgt im Zusammenhang mit der Einführung des Nachfolgers, Dr. Stephan Schaede, voraussichtlich am 18. Juli in der Lüneburger St. Johanniskirche.
Hartmut Merten